Die Holzskulptur in der Annakapelle
von Thomas Rees ist aus einer ca. 100 Jahre alten Linde herausgearbeitet. Auffallend an dieser Figurengruppe ist die große Christusdarstellung, die zusammen mit dem Kreuz aus Robinienholz den Hintergrund für die Hl. Anna und Maria mit Jesus abbildet.
Ein auferstehender, sich aufrichtender Christus der den Querbalken des Kreuzes nach oben wölbt – das Kreuz ist keine Last mehr, Qualen und Tod sind überwunden. Auf dem Haupt befindet sich keine schmerzende Dornenkrone sondern ein sonnenförmig dargestellter Strahlenkranz. Dieser ist eine ursprüngliche Form der Darstellung des Heiligenscheins und ist in vielen Kulturen ein Symbol für das Mächtige, Erleuchtete oder Heilige. Hier wirkt er gleich der Sonne als das alles Überstrahlende, Quelle allen Lebens. Die Anzahl der Strahlen sind ein Hinweis auf die Symbolik der Zahl zwölf.
Zerrissenheit und Zweifel symbolisiert für Thomas Rees die rechte, dunkle und von einem tiefen Riss durchzogene Gesichtshälfte. Der zweifelnde Mensch im Zwiespalt zwischen Glaube, Wissenschaft und Realität. Ein trotzdem lächelndes, milde blickendes Gesicht neigt sich dem Betrachter entgegen. Von der linken Brustseite, dem Herzen ausgehend, öffnet sich die Skulptur gleich einem Mantel; Anna und Maria mit dem Jesuskind erscheinen darin. Das sich öffnende Herz steht als Ursymbol der Liebe, des Lebens und für das Innerste des Menschen.
Über Augen und Hände stehen die Figuren vielfältig miteinander in Beziehung. Die fragenden Augen des Kindes, der sorgende Blick der Mutter….
Die Hände Annas erweitern gleichsam die vom Herzen ausgehende Öffnung an deren Ende Marias Fuß heraus tritt. Die schützende Hand Jesu über beiden Frauen, die Berührung der Fingerspitzen des Kindes mit denen des auferstehenden Christus lassen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ineinander übergehen. Marias Wange wird von der Hand des Säugling berührt…
Thomas Rees unterstreicht mit diesen Gesten und Gebärden den inneren Zusammenhang, in dem die Figuren und deren Leben stehen.
Mit der Schlange und dem Apfel wird auf die Erzählung im Buch Genesis hingewiesen, bei der Eva entgegen dem Rat Gottes eine Frucht vom Baum der Erkenntnis nimmt. Maria gilt demgegenüber als die neue Eva, die das Böse überwindet und für die Neuschöpfung steht, deren Beginn in der Geburt Jesu zu sehen ist.
Die Verehrung der Hl. Anna und deren Darstellung in der sogenannten „Anna selbdritt“ (Anna, Maria und Jesuskind), hat ihren Ursprung in der Frömmigkeit des 13./14. Jahrhunderts und wurde im späten Mittelalter ein beliebtes Motiv in der Christlichen Kunst. Die Skulptur schafft somit einen Bezug zu der ursprünglichen Anna-Kapelle und der damaligen Zeit („selbdritt“ ist ein altes Wort für „zu dritt“).
Das Kreuz durchbricht mit seinem Längsbalken die Außenmauer und ragt aus der Kapelle heraus. Der Querbalken hat gleichzeitig eine tragende und symbolische Funktion zu der himmelwärts gerichteten Dachkonstruktion.
Die Fenster in der Kapelle geben den Blick auf die Seiten der Skulptur frei. So ist auf der Südseite ein Teil der Geschichte des Ortes dargestellt: der Mord an Abt Konrad von St. Märgen (1356), der Bau der ursprünglichen Sühnekapelle (1570) und der Abriss der in Kriegswirren zerstörten Kapelle (1811). Auf der Nordseite ist David, einer der Erzväter Israels, zu sehen. Laut Geschichte hat er König Saul mit den Klängen seiner Harfe die bösen Geister vertrieben.
Die Architektur der Anna-Kapelle und die Skulptur im Inneren stehen in einer besonderen Beziehung: Die drei zum Himmel strebenden Segel als Symbol der Dreifaltigkeit und als beschützende Teile über der kleinen Kapelle zu dem auferstehenden, schützenden Christus über Anna, Maria und dem Kind. Die Dreifaltigkeit – dargestellt mit dem Symbol der Sonne, die Sonnenscheibe als Gott-Vater, die Strahlen als Gottes Sohn und die strahlende Wärme als heiligen Geist. Die sich öffnenden Mauern zu dem sich öffnenden Herzen. Das Kreuz ist Teil der Skulptur, Teil des Bauwerks und schafft gleichzeitig eine Verbindung von außen nach innen.
…und der „Höllentäler“ verfängt sich in den Segeln des Daches und im Innern trifft er auf Maria, die ihm entgegen tritt.